Teil 1: Von A wie Atommüllendlagerstandort bis M wie Musik.
Über Pfingsten haben wir uns mit dem Bulli auf den Weg ins Wendland gemacht und die Kulturelle Landpartie besucht. Hier Teil 2 unseres Reiseberichts von A-Z:
Von N wie Nemitzer Heide bis Z wie Zahlen
N wie Nemitzer Heide
12. August 1975, es ist warm und trocken, seit 4 Tagen brennt es in der Lüneburger Heide. Als mittags im Wald bei Gorleben ein Feuer ausbricht, kann ein einzelnes Tanklöschfahrzeug wenig gegen die Flammen ausrichten, die sich im trockenen Nadelwald schnell ausbreiten. Bis zum Abend kann das Feuer mit Hilfe der Bundeswehr und Feuerwehren aus benachbarten Bundesländern eingedämmt werden. Die Dörfer in der Nähe bleiben verschont, aber insgesamt sind 2000 Hektar Wald und Acker verbrannt.
Ein großer Teil der Fläche wird nicht wieder aufgeforstet, so dass eine Heidelandschaft entsteht – nicht zum ersten Mal.
Auf 550 Hektar Fläche erstreckt sich heute die Nemitzer Heide. Sanddünen, Heidekraut, Birken und Wacholder. Dazwischen Vögel, Eidechsen, Schmetterlinge. Und natürlich 350 Heidschnucken, die dafür sorgen, dass die Heidelandschaft bleibt.
Zwei Tipps für Spaziergänge durch die Nemitzer Heide: Zum einen für Heuschnupfengeplagte – auch in der Heide lassen die Birken ihre Pollen fleißig fliegen. Ich spreche aus Erfahrung. Zum anderen merkt man erst an einem sonnigen Tag um die Mittagszeit so richtig, wie wenig Schatten eine offene Heidelandschaft so bietet.
O wie Organisation
Hinter der Kulturellen Landpartie steht ein Verein. Basisdemokratie ist der Organisation wichtig. Und es ist unglaublich, was der Verein und all die Menschen an den einzelnen Wunde.r.punkten so Jahr für Jahr schaffen. Nach eigenen Angaben immerhin das größte selbstorganisierte Kulturfestival Norddeutschlands. Ich bin ernsthaft beeindruckt.
P wie Püzza und Pale Ale
“Schmelzkäse statt Kernschmelze!” fordert das Banner, hinter dem wir herzockeln. Es hängt an einem Anhänger, der von einem Trecker langsam die Straße entlanggezogen wird. Laute Musik, Seifenblasen, Sonnenuntergang. Party? Demo? Nein, nur unser Rückweg von Gorleben nach Gedelitz. Auf der vollgeparkten Straße ist es selbst zu Fuß nicht so einfach, einen Trecker zu überholen.
Das Banner weckt aber unsere Vorfreude, denn es wirbt für “Püzza in Püggen”. Die wunderbare Steinofen-Pizza, die uns letztes Jahr so begeistert hat.
Am nächsten Tag kommen wir dann endlich wieder in den Genuss der Pizza, von der wir ein Jahr lang geschwärmt haben. Im Rundlingsdorf Püggen sitzen wir zwischen alten Gemäuern in der Sonne, auf dem Tisch ein Sträußchen Wiesenblumen, vor uns jeweils ein Glas köstliches selbstgebrautes Pale Ale und warten auf unsere Bestellung. Alleine das wäre schon einen Besuch wert. Aber dann kommt auch noch die Pizza dazu. Mit regionalen Zutaten, laut Tafel ökologisch und tierfreundlich – und vor allem: sooo lecker.
Deshalb unser Tipp zur Kulturellen Landpartie: macht ‘ne Püzza-Pause in Püggen. Wir würden’s auch jederzeit wieder tun.
Kunst gibt es hier übrigens auch zu begucken und zu kaufen.
Q wie Quickborn
Nein, nicht die Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Das noch viel kleinere Dorf (420 Einwohner) im Landkreis Lüchow-Dannenberg ist gemeint. Da gibt es eine ganz besondere Veranstaltungsreihe, jedes Jahr zur Kulturellen Landpartie finden die Quickborner Wohnzimmerkonzerte statt. Die meinen das wörtlich – insgesamt acht Konzerte in vier privaten Wohnzimmern gab es dieses Jahr. Interessantes Konzept.
R wie Rundling
Ganz typisch für das Wendland ist eine besondere Form von Dorf: der Rundling.
Um einen mehr oder weniger runden Dorfplatz stehen sternförmig niederdeutsche Hallenhäuser, alle mit dem Giebel zum Dorfplatz, so dass die dazughörigen Grundstücke keilförmig sind. Wie Tortenstücke.
Das ist sehr hübsch, vor allem weil im Wendland auch noch sehr viele alte Hallenhäuser erhalten sind.
Die Ursprünge sind etwas unklar. Diese Art von Dörfern gibt bzw. gab es nur in einem Streifen zwischen Ostsee und Erzgebirge, einer mittelalterlichen Kontaktzone zwischen deutschem und slawischem Siedlungsgebiet. Wer wann warum begonnen hat, Dörfer so anzulegen – dazu gibt es nur Vermutungen. Man nimmt an, dass die Rundlinge ab Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden sind.
Was wir wissen: in solcher Anzahl, Dichte und Erhaltung findet man sie nur noch im Wendland. Wie viele es genau sind? Gute Frage. Je nachdem, wen man fragt und wie gezählt wird, bekommt man Antworten zwischen “rund 80” und “über 100”. Sehenswert sind die Dörfer allemal.
In Lübeln gibt es sogar das Rundlingsmuseum Wendlandhof, in dem man mehr über die Geschichte der Rundlinge, das Leben im Wendland und altes Handwerk erfahren kann. Online findet man Informationen zu Rundlingsdörfern im Wendland zum Beispiel beim Rundlingsverein, der auch erklärt, was es mit den Zweiständerhäusern, Dreiständerhäusern und Vierständerhäusern auf sich hat.
S wie Sternenhimmel
“Wow… so viele Sterne habe ich noch nie gesehen!”. Dieser Satz fiel gleich mehrfach.
Eigentlich wollten wir gerade ins Bett gehen, nachdem wir in unserem Basislager noch ein paar Stündchen bei ein paar Getränken zusammengesessen hatten. Zum Glück machte ich noch ein paar Schritte hinter den Bulli, von wo aus ich ohne störendes Licht plötzlich diesen tollen Sternenhimmel sehen konnte.
So stehen wir noch eine Stunde unter Milliarden funkelnder Sterne und staunen. Schauen zum Himmel hinauf und fühlen uns klein. Absolut faszinierend. Und vielleicht haben wir sogar ein paar Sternschnuppen gesehen…
T wie Trecker
Sie sind überall. Auf den Feldern, auf den Straßen. Sie ziehen Anhänger voller Besucher bei der Info-Rundfahrt in Gorleben (siehe “F wie Freitag in Gorleben”). Sie ziehen Autos aus Straßengräben. Und sie haben von Anfang an eine besondere Rolle bei den Protesten gegen die Atomanalgen im Wendland gespielt. Trecker sind im Wendland wirklich allgegenwärtig.
U wie Unterwegs sein
Wie kommt man während der Kulturellen Landpartie von A nach B? Mit dem Auto? Natürlich, aber so trägt man immer wieder zum Verkehrschaos bei. Zu Fuß? Ja, für einige Strecken von Dorf zu Dorf geht das, aber besonders weit kommt man so natürlich nicht. Mit dem Fahrrad? Gute Wahl, wenn man eins hat. Bus und Bahn? Das Angebot ist im Wendland leider sehr eingeschränkt. Trampen? Alleine oder zu zweit soll man durchaus eine Mitfahrgelegenheit finden können, da wir bisher immer mit Vollbesetzung unterwegs waren, fehlen mir da die Erfahrungen.
Shuttle-Busse? Dieses Jahr gab es zum ersten Mal einen KLP-Bus, der von einem zentralen Parkplatz aus einen Rundkurs über ein paar Dörfer fährt. Ein Pilotprojekt, in der Hoffnung, zumindest ein kleines bisschen Entlastung zu schaffen.
Weil das auch unsere Nerven schont und wir die Idee gut und unterstützenswert finden, machen wir am Samstag eine Bus-Tour. Los geht es am Parkplatz auf einer Wiese bei der Freiwilligen Feuerwehr in Clenze. Wir stoppen in Kussebode, Püggen und Mammoißel zwischen. Der Bus bringt uns nicht nur entspannt ans Ziel, er bringt uns auch noch direkt bis ans Ziel – die Fußwege vom nächsten freien Parkplatz sind sonst manchmal nicht ganz ohne… Bleibt zu hoffen, dass es nächstes Jahr eine Fortsetzung, möglicherweise sogar eine Ausweitung gibt.
V wie Verkehrschaos
Tausende Gäste bringen die Infrastruktur einer dünn besiedelten Region wie dem Wendland schnell an ihre Grenzen. Auf den Zufahrtsstraßen zu einigen Wunde.r.punkten kann es schonmal eng werden, wenn sich Autos, Fahhräder und Wandergruppen zwischen zugeparkten Straßenrändern durchschlängeln. Das kann ganz schön Nerven kosten. Manche scherzen gar, die Region habe ihren Namen daher, dass man ständig, nunja, wenden muss. Haha.
Erstmals gab es in diesem Jahr einen KLP-Bus, der von einem zentralen Parkplatz aus einen Rundkurs über ein paar Dörfer fährt. Ein Pilotprojekt, in der Hoffnung, zumindest ein kleines bisschen Entlastung zu schaffen. (siehe auch U wie Unterwegs sein)
Auch wir stürzen uns ins Verkehrschaos, zu fünft in ein Auto gequetscht, denn die Strecken können schonmal lang werden. Das sorgt nicht immer für gute Stimmung.
W wie Willa… äh, Villa Wendland
Beim ersten Mal zucke ich noch zusammen, beim zweiten Mal grüble ich und beim dritten Mal erkenne ich das Geräusch als Pfauenschrei, der uns an der Villa Wendland begrüßt.
Wenig später haben wir ein schattiges Plätzchen gefunden, wo wir unser Wendlandbräu trinken und wieder dem Pfau lauschen können. Dass ein so prächtiger Vogel ein so merkwürdiges Geräusch von sich gibt…
Wir schlendern durch den großen Garten und sehen uns zuerst die Austtelung CIRCUS.FREIHEIT.GLEICHSCHALTUNG an, die in einem Circuszelt über Circus im Nationalsozialismus informiert und schauen dann einer Artistin am Trapez zwischen den hohen Bäumen zu.
Schlendern noch ein bisschen zwischen den Ständen mit Kunst, Handwerk, Schmuck und Pflanzen herum, bevor wir nach einer ausgiebigen Inspektion des Speisenangebotes wieder im Schatten sitzen und den Pfau wieder schreien hören. Es ist ein sehr sonniger Tag.
X wie X
Das X ist im Wendland allgegenwärtig.
An Gartenzäunen, Bäumen, Hausfassaden, überall leuchtet einem das gelbe Holzkreuz entgegen, das als Zeichen des Protests gegen die Castortransporte ins Atommüllzwischenlager in Gorleben aufgestellt wird.
Woher kommt das X? Mit der Kampagne “Tag X – wir stellen uns quer!” wurde der Widerstand gegen den ersten (und alle weiteren) Castortransport angekündigt.
Y wie Tisch Y
Nachdem der klassische Problembuchstabe X kein Problem war, habe ich unsere gesamte Reisegruppe animiert mir bei der Suche nach dem Y zu helfen. Und dann bin ich im wahrsten Sinne des Wortes darüber gestolpert. Auf dem Weg zwischen Zeltwiese und Toilette stellte sich mir Tisch Y in den Weg.
Für irgendwas musste der Weg über den schmalen Trampelpfad ja gut sein.
Z wie Zahlen
Kennst du Graf Zahl aus der Sesamstraße? Ich habe ihn schon als Kind gehasst, weil er sooo langsam zählt. Leider habe ich das irgendwann mal meinen Freunden erzählt, und so wurde gezählt, was zu zählen war. Während wir an der Theke auf unsere Bestellung warten: “Eiiins. Ein Bier! – Zweiii. Zwei Bier!”, ich erspare jetzt den Rest, aber wir ziehen das bis zum fünften Bier durch.
Trotzalledem mag ich Zahlen eigentlich, deshalb hier noch ein paar Zahlen zur Kulturellen Landpartie und zum Wendland:
Mit gerade einmal 48.825 Menschen, die hier leben, ist der Landkreis Lüchow-Dannenberg nach Einwohnerzahl der kleinste Deutschlands, und bei 40 Einwohnern pro Quadratkilometer gibt es nur 3 noch dünner besiedelte Kreise.
Die 29. Kulturelle Landpartie: Eine unbekannte Zahl, sagen wir: tausende, Besucher tummelten sich an 12 Tagen an 123 Wunde.r.punkten in 88 Orten. Alle Informationen dazu gibt es zu Mitnehmen auf 385 Seiten im Reisebegleiter.
Wir waren 4 Tage lang mit 5 Personen, 2 Zelten und 1 Bulli dabei. Und 2019 planen wir wiederzukommen.